Ein erster Treffer einer US-Langstreckenrakete auf der Krim: Die Ukraine setzt wieder Atacms ein. Grund zum Jubel – aber der ist sehr verhalten.
Kap Tarchankut – „Wenn Tausende von Splittern über einer Luftabwehrbatterie niedergehen, bleibt nichts mehr übrig“, hat Thomas Theiner im vergangenen September der Welt erzählt. Der ehemalige italienische Artillerist hat damit den möglichen Einschlag einer Atacms-Rakete (Army Tactical Missile Systems) mit Streumunition kommentiert. So etwas hat sich offenbar erneut zugetragen. Newsweek berichtet unter Berufung auf verschiedene Quellen, dass die Ukraine die Krim vermutlich erneut mit Atacms unter Beschuss genommen hat – möglicherweise sogar wieder mit Streumunition. Wladimir Putin hat mit dem jüngsten Angriff wohl jetzt eine S-300-Luftabwehr-Batterie verloren. Auch einen Schlag gegen russische Stellungen im besetzten Südosten der Ukraine soll laut Tagesschau mittels der Atacms erfolgt sein.
Newsweek beruft sich auf den X-Kanal (vormals Twitter), der die Behauptung des Atacms-Angriffs auf der Krim publiziert – und obwohl eine Bestätigung des eingesetzten Waffentyps fehlt, liest sich Newsweek durchaus euphorisch; wie bereits im Herbst vergangenen Jahres, als die Ukraine wohl zum ersten Mal der russischen Luftwaffe einen kapitalen Dämpfer verpasst hatte; selbst die Neue Zürcher Zeitung war von dem Thema angezündet: „Lodernde Flammen, gewaltige Rauchwolken, die Umrisse eines Kampfhelikopters vor dem geröteten Nachthimmel: Die Videobilder des Infernos am Militärflughafen der russisch besetzten Stadt Berdjansk machten am 17. Oktober 2023 sofort klar, dass Russlands Luftwaffe einen schweren Schlag erlitten hatte. Rasch bestätigte sich, dass hier eine neue Waffe zum Einsatz gekommen war: Erstmals hatte die Ukraine Raketen des amerikanischen Typs Atacms abgefeuert.“
„Putins Albtraum“: Die moderne Atacms steht in der Ukraine für das Prinzip Hoffnung
Inzwischen hat US-Präsident Joe Biden den Nachschub dieser Waffe durchgeboxt. Die Ukraine wird langstreckenfähig, weil die USA den aktuellen Typ mit bis zu 300 Kilometern Reichweite geliefert hat. „Mit dieser Waffe wird Putins Albtraum wahr“, titelte die Welt im September, als die erste Charge an Raketen wohl gerade mal an der Front angelangt war – die des älteren Typs mit weniger als 200 Kilometern Reichweite. Sie steht für das Prinzip Hoffnung, für das die Verteidiger gegen Russlands Terror scheinbar jeden Strohhalm nutzen, denn albtraumhaft ist eher die Situation für die Ukraine. Selbst wenn auf der Krim jetzt eine Batterie zerstört sein sollte, ist das erst einmal ein Tropfen auf den heißen Stein, obwohl die Welt erneut überschwänglich reagiert: „Alle russischen Einrichtungen akut gefährdet“, will sie wissen.
Zeit Online ist da realistischer – wenn nicht gar pessimistisch: Deren Meinung nach käme mit ihr zwar die richtige Waffe – aber um ein Jahr zu spät: „In die Rakete wird mehr Hoffnung gesetzt, als sie erfüllen kann“, schreibt Autor Alexander Eydlin. Tatsächlich ist die Zahl der gelieferten Atacms vermeintlich übersichtlich. Die erste Charge im Herbst vergangenen Jahres beschrieb die Tagesschau als „sehr kleine Zahl“, jetzt berichtet die Zeit unter Berufung auf die New York Times von 100 zusätzlich gelieferten Raketen – deren Vorteil ist, dass sie von den bereits in der Ukraine eingesetzten Himars-Raketenwerfern abgefeuert werden können.
Einschlag auf der Krim: Kein taktischer Wert ohne den Einsatz von Bodentruppen
Inzwischen sollen die USA auch die moderne Variante mit bis zu 300 Kilometern Reichweite und GPS-Navigation geliefert haben, möglicherweise aufgrund des inzwischen deutlichen russischen Übergewichts. Damit gewinnt die Ukraine definitiv an operativen Möglichkeiten, andererseits argumentier auch das Institute for the Study of War (ISW) vorsichtig: Mit der Fähigkeit der Ukraine, auf längere Distanzen zu wirken, dränge sie die russischen Flugplätze, Depots oder Bereitstellungsräume einfach weiter zurück ins russische Kernland: Ein Raketenangriff ohne das Nachstoßen von Bodentruppen brächte somit langfristig keinen taktischen Erfolg.
Selbst der jetzt erfolgte Angriff auf die Luftabwehr auf der Krim ist vielleicht ein erfolgreiches aber definitiv singuläres Ereignis – anders als der permanente Angriff auf die Schwarzmeer-Flotte mithilfe von Drohnen, was die Ukraine zu einer regionalen Seemacht hat wachsen lassen. „Weitaus bedrohlicher ist hingegen der Abnutzungskrieg, den die Ukraine seit Monaten mit zunehmender Vehemenz weit hinter den Kontaktlinien führt. Und die Zermürbung dürfte mit der neuen Lieferung von amerikanischen Präzisionsraketen vom Typ Atacms mit 300 Kilometern Reichweite zunehmen“, hat die Welt Ende vergangenen Jahres ins Blaue formuliert. Davon ist immer noch wenig zu spüren.
Die Zeit spielt für Russland – aber für die Krim-Brücke könnte die Uhr ticken
Möglicherweise steht der große Knall jetzt aber tatsächlich bevor. Ein Dorn im Auge der Ukraine ist immer noch die Krim-Brücke, die mit den neuen Raketen wieder verwundbarer würde. Fraglich ist allerdings, wie viele Raketen die Ukraine investieren müsste, um den Lebensnerv des russischen Nachschubs zu durchtrennen. Immerhin hatte Russland Zeit, das monatelange Hickhack der USA für eigene Vorbereitungen zu nutzen. Seit dem erfolgreichen Angriff der Ukraine im Oktober hatten die Russen Gelegenheit, sich auf diese Bedrohung einzustellen, wie das ISW schreibt. Die Russen hätten ihre Depots sowohl zurück verlagern können als auch besser gegen Luftangriffe schützen.
Weiterhin blickt der Westen einigermaßen besorgt auf die Nutzung der Waffe beziehungsweise auf die Reaktion aus Moskau, sollte eine Atacms im russischen Kernland aufschlagen. Die Waffen seien explizit gedacht „zur Verwendung innerhalb ihres eigenen Territoriums“ wie die Tagesschau Jake Sullivan, den nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten, zitiert. Aktuell – am 28. April – berichtet die Nachrichtenagentur Reuters von einer neuerlichen Bitte der Ukraine an die USA. In seiner wöchentlichen Video-Ansprache sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj, er habe aktuell mit dem Minderheitsführer im US-Repräsentantenhaus, Hakeem Jeffries, gesprochen und ihn um Tempo gebeten: „In meinem Gespräch mit Herrn Jeffries habe ich betont, dass Patriot-Systeme benötigt werden, und zwar so schnell wie möglich.“
Nachschub abschneiden: Die Chance der Ukraine, die Front zu stabilisieren
Reuters berichtet gleichzeitig davon, dass sich die Lage an der Front für Ukraine verschlechtere: Seit der Eroberung der Stadt Awdijiwka rücken Moskaus Truppen langsam vor und nutzen dabei den Mangel an Artilleriegranaten und Soldaten der Verteidiger. Kiews Truppen hätten demnach neue Stellungen westlich der Dörfer Berdychi und Semeniwka, beide nördlich von Awdijiwka, und Nowomychajliwka, weiter südlich in der Nähe der Stadt Marjinka, bezogen. „Im Allgemeinen erzielte der Feind in diesen Gebieten gewisse taktische Erfolge, konnte sich aber keine operativen Vorteile verschaffen“, sagte laut Reuters Generaloberst Oleksandr Syrskyi, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine.
Im März hatte Deutschlands bekanntester Militärhistoriker Sönke Neitzel dem NDR gegenüber gewitzelt, ihm sei auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz beinahe schon Defätismus vorgeworfen worden auf seine Einlassung, er wäre froh wenn die Ukraine zumindest nicht verlieren würde – Neitzel betont immer wieder, dass die Angriffsfähigkeit der Ukraine erhöht werden müsse. Ihm zufolge verbreiten Optimismus vor allem diejenigen, die keine Ahnung davon hätten, „wie schwierig Angriffsoperationen zu führen sind“, wie er sagt. Die Atacms könnten ihren Teil zur Angriffsfähigkeit beitragen. Das sieht auch Spiegel-Autor Gernot Kramper so – er befürchte, die Ukrainer könnten dem russischen Druck nicht mehr lange standhalten.
„Gelingt es jetzt, den russischen Nachschub abzuschneiden und die Kommandostrukturen zu treffen, würde der russische Angriffsschwung erlahmen. Das würde keinen Sieg bedeuten, aber die Ukrainer hätten zumindest die Chance, ihre Front zu stabilisieren.“ (KaHin)
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